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Grenzgänger Kulturschock

Grenzgängerdasein und Grenzpendeln ist das gelebte Europa offener Grenzen – 26.000 Menschen allein in der Euregio Maas-Rhein leben, arbeiten oder studieren in zwei oder sogar drei Nachbarländern gleichzeitig und bilden so eine ganz besondere Hybridkultur. Während der Alltag oft grenzüberschreitend verläuft, so sind die bürokratischen Systeme nicht harmonisiert d.h. vereinheitlicht. EU-weit sind die Systeme dennoch so weit koordiniert, dass es zwischen den unterschiedlichen Systemen für praktisch alles verlässliche Regeln gibt.

Das Beste, in zwei Welten

Nach Zeiten der Eingewöhnung und möglichen Rückschlägen kann man „das Beste aus zwei Welten“ für sich nutzen. Der Alltag wird um viele Facetten und Möglichkeiten reicher, Liebgewonnenes von beiden Seiten der Grenze kann ohne großen Aufwand kombiniert werden. Nicht zuletzt die vierzig Themenbereiche dieser Homepage beleuchten die grenzüberschreitende Realität – von internationaler Ausbildung bis hin zu Freizeitaktivitäten.

Grenzgängerdasein: Ein Lernprozess

Das Leben in verschiedenen Kulturen kann eine große Bereicherung sein und jede/r Mitarbeiter/in der GrenzInfoPunkte wird Ihnen bestätigen, wie diese Erfahrung persönlich prägen kann. Doch trotz aller Nähe und Normalität geht das Leben in unterschiedlichen nationalen Kontexten nicht ohne Irritationen und Frustrationen vonstatten. Man sollte sich daher über eigene Erwartungen klar werden, sich auf Veränderungen einstellen und bewusst einlassen. Wie bei jeder persönlichen Veränderung steht ein Lernprozess an, und das gleich international.

Grenzgängerdasein vs. "normale" Auslandserfahrunge

Bei einem Umzug von bspw. Berlin nach Amsterdam betrifft die neue Kultur praktisch alle Lebensbereiche. Das Leben ist also faktisch „mehr anders“ als in der Grenzgängersituation. Gleichzeitig gibt es bei Arbeitsaufnahme und Umzug von Berlin nach Amsterdam einen sichtbaren Bruch, d.h. eine lange Fahrtzeit, evtl. eine Flugreise mit den Prozeduren des ein- und auscheckens. Durch die spürbare Veränderung wird auch der Länderwechsel verständlicher. Das kann auch durchaus schmerzhaft sein – lieb gewonnenes ist fern oder nicht erreichbar, man ist nicht mehr in der gewohnten Komfortzone. Das kann zum Phänomen des Kulturschocks führen – oft der erste Schritt zum Eingewöhnen im neuen Umfeld.

Anders in der Grenzgängersituation: Es gibt praktisch keinen Bruch, man wähnt sich evtl. immer noch zu Hause, hört vielleicht dasselbe Radio im gleichen Auto, bis vor die Tür des neuen Arbeitgebers. Die Frage nach einem “Kulturschock Aachen-Maastricht?” oder gar einem “Kulturschock Aachen-Eupen” klingt beinahe anmaßend oder reißerisch.

Zum Einen bleibt in der Grenzgängersituation mehr Vertrautes. Zum anderen geht das Neue mit dem Vertrauten eine Symbiose ein, die es so im Falle Berlin – Amsterdam nicht gibt. Möglicherweise bleibt der Partner die Partnerin sogar ganz im altbekannten Umfeld. Das Paar ist also somit sehr viel ungleichmäßiger dem Erleben eines „Kulturschocks“ ausgesetzt. Andererseits gibt es natürlich auch Paare, in denen der zweite Partner nun auch den Schritt über die Grenze wagt und somit den besonderen Kontext des jeweils anderen besser verstehen lernt. Und natürlich gibt es auch bi-nationale Paare, die das Heimatland des anderen im Arbeitsumfeld kennen lernen können, ohne Ihre alte Heimat zu verlassen.

Grenzgängerdasein: Normaler Veränderungsdruck oder Kulturschock?

Der sogenannte Kulturschock entspricht einer typischen Veränderungskurve. Bereits im Alltag müssen wir lernen, mit neuen Herausforderungen umzugehen. Das geschieht meist unbewusst, kleine Lernprozesse und Anpassungen werden kaum als Anstrengung empfunden. Bei größeren Veränderungen, wie Umzug oder Arbeitsaufnahme, werden diese Prozesse schon bewusster. Es geht nicht einfach nur bergauf, bei jeder tiefgreifenden Veränderungen erfolgen typischerweise Phasen von „Euphorie“ – „Zweifel und evtl. Ablehnung“ sowie „Anpassung, Eingewöhnung, Akzeptanz“ (siehe Modul zum Kulturschock).

Bei einem Jobwechsel innerhalb des Landes kann es also durchaus eine Veränderungskurve geben, nicht zuletzt unterscheidet sich auch jede Firmenkultur und jeder Firmenkontext voneinander. Beim Grenzgängerdasein wie generell im Interkulturellen überlappen sich diese Prozesse. Interkulturelle Unterschiede, das „neue Normal“, können bestehende Frustrationen noch verstärken. Probleme mit dem Chef sind nicht gleich auf das ganze Land zu übertragen. Andersherum sind landestypische Unterschiede kein Zeichen dafür, dass der Arbeitsplatz an sich nicht passt. Und nachdem man aus Richtung Großstadt aufs Land in Belgien gezogen ist, sollte man nicht gleich bei kleinen Irritationen alle Einwohner des neuen Ortes oder gar alle Belgier als vermeintliche Hinterwäldler vorverurteilen. Gerade in einer Grenzregion gilt es also zu unterscheiden, was die wirkliche Ursache hinter kleineren Frustrationen und Anpassungsschwierigkeiten ist. Nur so kann es zu einer Lernerfahrung werden, nach der man sich mühelos in ganz unterschiedlichen Kontexten zurecht findet.

Ein- oder untertauchen im Nachbarland?

Einerseits ist man der neuen Kultur also in weniger Bereichen „ausgesetzt“ als bei einem vollständigen Umzug. Andererseits hat man auf der Arbeit von Kollegen umgeben, die zu großen Teilen ein recht anderes Umfeld haben. Einkaufen tut man hier, der beste Freizeitpark ist dieser. Man konsumiert andere Medien mit anderen Schwerpunkten. Gleichzeitig ist das eben auch die große Chance, etwas Neues, jedoch ganz in der Nähe, kennen zu lernen. Tatsächlich profitiert diese Grenzregion sehr davon, dass sich viele Grenzgänger auf beiden Seiten der Grenze gut auskennen. Sie werden so zu einer Art Informationsbrücke für Familie und Bekanntenkreis. Sozusagen interkulturelle Multiplikatoren. Und weil es davon bereits zehntausende gibt, sind die Chancen hoch dass auch das neue Arbeitsumfeld im Nachbarland schon viel über den eigenen Hintergrund und Referenzrahmen kennt.

Beispiel: Die Niederlande nach Hause geholt

Anders als bei einem vollständigen Wechsel ins Nachbarland ist man nicht vollständig von der neuen Kultur umgeben. Gleichzeitig berührt die neue Kultur damit auch das vertraute Umfeld, manchmal völlig unerwartet: Herr Zimmer wohnt in Aachen und arbeitet in den Niederlanden. Als er sich nahc einem Jahr erstmals krankmelden möchte, schickt seine Firma einen Betriebsarzt zu ihm nach Deutschland, dort wo er nun seit 20 Jahren lebt. Herr Zimmer empfindet diesen kontrollierenden Arztbesuch als Misstrauen der Firma und als ungeheuerlichen Eingriff in seine Privatsphäre. Sein Aachener Nachbar, der die Situation mitbekommen hat, kann über soviel Übergriffigkeit ebenso nur den Kopf schütteln. So etwas kann man schließlich nicht machen, das geht eindeutig zu weit.

Wäre Herr Zimmer für seinen neuen Job in den Niederlanden gleich weiter umgezogen, hätte ihn der niederländische Betriebsarzt genauso zu Hause besucht, denn das ist völlig üblich und kein Grund zur Sorge. Durch den Umzug und vollständigen Neustarts im Unbekannten hätte Herr Zimmer schon mehrfach die Erfahrung gemacht, dass manche Dinge eben anders funktionieren. Vielleicht hätte er am Vorabend mit einem neuen niederländischen Nachbarn geplaudert und erzählt, dass er sich wahrscheinlich krank schreiben möchte. Der Nachbar hätte ihm evtl. gesagt, dass dann ja auch der Betriebsarzt käme – Herr Zimmer wäre „vorgewarnt“ und in diese typisch Niederländische Arbeitsrealität eingeweiht. Jedenfalls hätte der Nachbar Herrn Zimmer kaum darin bestätigt, dass diese andere Art der Krankmeldung übergriffig und vor allem „nicht mehr normal“ sei, so wie es Herr Zimmer in unserem Beispiel ursprünglich empfand.

Die untenstehende Kurve zeigt einen möglichen “Achterbahn-“Verlauf für Grenzgänger:innen in den Niederlanden. Andere Standards haben Vor- und Nachteile, die zu bestimmten Zeiten besonders wahrgenommen werden. Die Situation zwischen zwei Ländern kann Frustrationen mildern – aber zum Teil auch verstärken. Eine genaue Erklärung findest sich Schritt für Schritt im Modul “Kulturschock Aachen-Maastricht“.

Neue Lebensphase, extra Bürokratieaufwand

Umbrüche oder Lebensphasen sind immer mit zusätzlicher Bürokratie verbunden. Für Grenzgänger:innen ist die Situation nicht anders. Häufig gibt es jedoch – verglichen mit dem Heimatland – mehrBürokratie zu bewältigen, und mehr unbekannte Bürokratie. Zwei Beispiele:

  • Nach Umzug ins benachbarte Ausland ist eine spätere Arbeitslosigkeit für Grenzgänger:innen bspw. damit verbunden, sich mit den neuen Regeln im Nachbar-Wohnland auseinandersetzen zu müssen. Durch den veränderten Status der Sozialversicherung kann es passieren, dass man mit angestammten Ärtz:innen im Heimatland nicht mehr ohne Weiteres Termine vereinbaren kann.
  • Im Krankheitsfall kann es durchaus passieren, dass man in einer Spezialklinik des Wohnlandes untergebracht wird, mit evtl. noch wenig bekannter Sprache des Wohnlandes

Zum Teil lösen Grenzgänger:innen die Probleme wie sie kommen, manche behelfen sich auch mit Übergangslösungen oder “wurschteln sich durch”. Ein Verständnis für die Gesamtzusammenhänge im neuen Wohn-/Arbeitsland stellt sich daher nicht unbedingt automatisch ein, ohne die nötige „Übung“ oder die Erfahrungswerte fühlen sich Problemsituationen oftmals besonders kalt an.

Die oben genannten Fälle gleichen eigentlich dem “normalen” Umzug innerhalb eines Landes bzw. dem “normalen”, d.h. vollständigen Schritt ins Ausland. Bei einem Umzug, auch innerhalb Deutschlands, ist es rein praktisch oft nicht möglich sich in altbekannten Kreisen zu bewegen, auch nicht für medizinische Dienstleistungen. Und auch bei einem normalen Schritt ins Ausland gehört es dazu, dass man sich mit völlig neuen Prozeduren oder bürokratischen Systemen auseinandersetzen muss. Der Vorteil ist jedoch: Man hat den Wechsel hier stets bewusst vor Augen. Auch die Auseinandersetzung mit bürokratischen Gegebenheiten erfolgt meist recht früh, und bestenfalls noch während  der meist eher euphorischen Anfangsphase im Neuland.

Kulturschock? Auslandsschock!

Als Grenzgänger:in kommt der „Schock“, tatsächlich in einem anderen Land zu leben, häufig gepaart mit anderen schwierigen Lebenssituationen oder Umbrüchen. Das kann als besondere Belastung empfunden werden. Wichtig ist sich klarzumachen, dass diese Phasen vorbeigehen. Auch die zunächst unbekannte Bürokratie wird vertrauter und weniger feindselig (nach dem Motto “diese Holländer machen einem auch immer das Leben schwer”). Eine weitere Erschwernis ist, dass das direkte Umfeld im Heimatland, die (neue) Nachbarschaft, der Kollegenkreis und auch andere Grenzgänger die Situation womöglich nicht vollständig begreifen und nicht jeder gutgemeinte Ratschlag auf den eigenen Fall zutrifft. Manch scheinbar unwichtige Unterschiede (verheiratet oder nicht, Vollzeit/Teilzeit, Angestellter/Beamtin) können manche Situation vollkommen von einem ins andere Land „kippen“.

Auch andere Lebensphasen gilt es bspw. bei einem Hauskauf zu berücksichtigen: Wenn Kinder während des Umzugs bereits in eine Kita/Schule gehen, kann dies beibehalten werden. Andersherum ist es oft nicht möglich, die Kinder ohne Weiteres in die Kita/Schule des Nachbarlandes zu schicken.

Die Beratungen der GrenzInfoPunkte helfen gerade in schwierigen Situationen, den Überblick zu behalten und die Rahmenbedingungen bestmöglich zu gestalten. Wenn die Situation auch nicht harmonisiert ist: Die Situation für Grenzgänger:innen ist in jedem Fall koordiniert und für alles existieren Regelungen.

Erwartungsmanagement und frühzeitige Information

Der Schritt über die Grenze – ob zum Wohnen, Studieren oder Arbeiten ist eine Lernerfahrung. Selbst wenn es wirklich nur wenige Schritte sind: Trotz aller Nähe befindet man sich in einem anderen Staat, und genau darauf sollte man sich bewusst einlassen. Mehr zum interkulturellen und euregionalen Erwartungsmanagement in unserem gesonderten Modul. 

Als Grenzgänger:in genau wie in ungewohnten Situationen im eigenen Land – man muss Vieles neu lernen und fühlt sich vielleicht manchmal regelrecht „dumm“ und stellt viele Fragen vielleicht gar nicht erst. Als Grenzgänger im anderen Land – anders als in ungewohnten Situationen im eigenen Land – hat man jedoch auch manchen Vorteil: Man kommt ja aus einem anderen Land, spricht die Sprache vielleicht nicht perfekt – alles Gründe, die eine vermeintlich dumme Frage rechtfertigen. Gute Bedingungen also für reiche Lernerfahrungen!

Grenzgängerdasein, Zusammenfassung der Schwierigkeiten:

Insgesamt und anders als bei vermeintlich klassischen Auslandsabenteuern kann bei Grenzgängern eine Gleichzeitigkeit, ein Nebeneinander der Kulturen bestehen. Die typischen Phasen des Eingewöhnens und Annehmens von Veränderungen laufen oft durcheinander, man erlebt alltäglich zwei verschiedene Standards ohne anstrengende Flugreisen oder andere sichtbare Marker. Die hier vorgestellten Hilfsmittel helfen dabei, ein unbestimmtes, vages Unwohlsein in neuer Situation und neuem Land genauer zu betrachten und zu benennen. Abstrakte Probleme werden hierdurch greif- und lösbarer. Als Grenzgänger:in muss man zudem trennen, ob das Gefühl eines „Schocks“ in der (Arbeits-)Kultur des Nachbarlandes liegt, oder evtl. an zeitgleichen Herausforderungen aus anderer Quelle verstärkt wurden.

Probleme werden auftreten, wie bei jeder Veränderung. Um interkulturelle Dimensionen leichter identifizieren und benennen zu können, haben wir eine Vielzahl von Modulen entwickelt, u.a. zur Arbeitskultur in Belgien und der Arbeitskultur in den Niederlanden.

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