Dynamische Wirtschaft mit großer Vergangenheit

Hinweis: Die folgenden Texte stehen im Kontext von “Belgien: Arbeitsplatz, Alltag & Lebensgefühl”. Viele Aspekte werden im Gesamtkontext deutlicher.

Anders effektive Geschäftskultur

 

Um Belgien besser in den Blick zu nehmen, schauen wir auch auf die Wirtschaft – denn Belgien spielt in ökonomischer Sicht ganz vorne mit in Europa.

Stolz ist man hier auch auf die frühe Industrialisierung, denn immerhin wurde die erste europäische Eisenbahnlinie auf dem Kontinent 1835 zwischen Brüssel und Mechelen angelegt. Auch das Lütticher Becken war schnell einer der fortschrittlichsten Hotspots in Kontinentaleuropa.

Die Bahnlinien verliefen schon früh grenzüberschreitend nach Deutschland und in die Niederlande und ermöglichten rege Wirtschaftsbeziehungen. Die Art der belgischen Geschäftskultur allerdings unterscheidet sich von den Nachbarn – es gibt zahlreiche ungeschriebene Regeln, die stark von der deutschen oder niederländischen Kultur abweichen. So läuft die Kommunikation viel indirekter, und der persönliche Kontakt ist eine ausgesprochen wichtige Grundlage für eine gute Zusammenarbeit. Mehr zu den wirtschaftlichen Grundlagen in Deutschland und den Niederlanden in unserer entsprechenden Audiopräsentation.

Erfolgreiche Wirtschaft braucht kluge Köpfe. Großer Wert wird in Belgien daher auf eine gute Ausbildung gelegt. Egal ob der Unterricht auf Niederländisch, Französisch oder Deutsch stattfindet – den jungen Menschen wird einiges abverlangt, und belgische Hochschulen belegen in internationalen Universitäts-Rankings regelmäßig vordere Plätze.

Dynamische Wirtschaft mit großer Vergangenheit

Ganz ganz vorne: Der Hafen von Antwerpen

Starten wir beim Hafen Antwerpen, der seit Jahren die wichtigste europäische Drehscheibe für Stahl- und Projektladung ist, und sich im Container-Bereich nach Rotterdam als Nummer Zwei in Europa etablieren konnte. Der Hafen Antwerpen ist mit seinen 150.000 Arbeitsplätzen ein wichtiger Wirtschaftsmotor und Logistikstandort für Belgien und Europa: Die jährliche Wertschöpfung beträgt 19 Milliarden Euro, das sind fast 9 Prozent des flämischen BIP und 5 Prozent des belgischen BIP.

Für viele deutsche Unternehmen ist Antwerpen näher als Hamburg, und der Antwerpener Hafen ist inzwischen auch deutlich größer: 2015 hat der Antwerpener Umschlag den des Hafens Hamburg um über 50 Prozent übertroffen. Das Hafengebiet Antwerpen ist zudem der wichtigste europäische Standort der chemisch-petrochemischen Industrie. Auch deutsche Konzerne wie Bayer oder Evonik haben sich hier niedergelassen, BASF betreibt auf 600 Hektar seine weltweit zweitgrößte Produktionsstätte. Was viele nicht wissen: Lüttich besitzt den europaweit drittgrößten Binnenhafen und zählt mit seinem Frachtflughafen zu den zehn größten in Europa.

Belgischer Außenhandel

Deutschland ist für Belgien der wichtigste Außenhandelspartner, gefolgt von den Niederlanden. Belgien ist für Deutschland ein attraktives Logistik-Zentrum, auf dem Logistik Performance Index der Weltbank rangiert es auf dem dritten Platz nach den Niederlanden und Deutschland. Trümpfe sind das dichte Eisenbahn- und Straßennetz, die fünf Häfen, drei Frachtflughäfen und nicht zuletzt die gut ausgebaute digitale Infrastruktur.

Belgien ist also ein erfolgreicher Wirtschaftsstandort. Nicht nur das belgische BIP ist hoch, auch der Kaufkraftindex und die Arbeitsproduktivität sind es. Hier einige Zahlen, die Aufschluss geben über die Wirtschaft in den verschiedenen Regionen: In Flandern werden 57 Prozent des belgischen BIP erwirtschaftet, in der Wallonie 24 Prozent und in Brüssel 19 Prozent. Allerdings: Die Flamen stellen auch etwa 60 Prozent der Bevölkerung des Landes. Und die Brüsseler Zahl liegt deshalb vergleichsweise hoch, weil 250.000 Pendler aus Flandern und 100.000 aus der Wallonie in Brüssel arbeiten. Nachdem die wirtschaftliche Kluft zwischen den Regionen Flanderns und der Wallonie in den vergangenen 20 Jahren stets größer wurde, stagniert sie inzwischen. Der Außenhandel ist übrigens die Kompetenz der Regionen – mehr dazu im Modul zu Belgiens doppeltem Föderalismus.

Vorreiter auf dem europäischen Kontinent

Was in den Niederlanden und Deutschland oft wenig bekannt ist: Der Süden des Landes kann auf eine große wirtschaftliche Vergangenheit zurückblicken – denn hier begann im frühen 19. Jahrhundert die Industrialisierung Kontinentaleuropas. 1910 war Belgien die drittmächtigste Handelsnation der Welt. Das lag vor allem an den Bodenschätzen des wallonischen Industriereviers, die sich wie ein breites Band mit den großen Zentren Lüttich, Charleroi und Mons bis zur französischen Grenze ziehen. Zudem hatte die Kolonie Kongo einiges an Geldern eingebracht. Zu den Bodenschätzen kam das technische Knowhow der belgischen Ingenieure, die auf der ganzen Welt Brücken, Eisenbahnlinien und Straßenbahnen bauten. In China etwa hat der belgische Ingenieur Jean Jadot 1898 mit Lütticher Stahl die 1.200 Kilometer lange Eisenbahnlinie zwischen Wuhan und Peking angelegt, außerdem bauten die Belgier eine Stahlbrücke über den Jangtsekiang. Sie belieferten das Russische Reich mit Stahlrohren und Schienen und produzierten die Infrastruktur für den öffentlichen Nahverkehr in Barcelona. Belgien war ein sehr wohlhabendes Land, und sogar in absoluten Zahlen übertraf die Wirtschaftsleistung zeitweise die des großen (aber damals noch ländlich geprägten) Nachbarlandes Frankreich.

Strukturwandel in der Wallonie

Nach dem zweiten Weltkrieg, in der sogenannten Wiederaufbauphase, lief es noch eine Weile gut für die Wallonie, und so blieben die bewährten traditionellen Strukturen bestehen. Doch dann führte der weltweit einsetzende Strukturwandel in den 1970er Jahren auch hier zu einem enormen Niedergang. Zechen und Stahlwerke schlossen, die Arbeiter wurden nicht mehr gebraucht, eine ganze Region musste sich neu erfinden.

Heutzutage ist die Wirtschaftsaktivität der Wallonie rund um die Industriegebiete und die Universitätszentren in Lüttich, Mons, Namur und der Universitätsstadt Louvain-la-Neuve angesiedelt. Man setzt auf Biotechnologie und Digitalisierung, und mittlerweile steht die wallonische Biotechnologie mit über 500 vernetzten Unternehmen und Forschungsinstituten an der europäischen Spitze.

2012 belief sich ihr Umsatz auf 4,4 Milliarden Euro, erwirtschaftet von 14.300 direkt und 30.000 indirekt Beschäftigten. Dass Belgien international zum größten Pharmaexporteur gediehen ist (ein Viertel aller verkauften Impfstoffe weltweit kommt aus Belgien) liegt unter anderem an GlaxoSmithKline Vaccines, dem weltweit zweitgrößten Impfstoffhersteller, der seit 40 Jahren im wallonischen Rixensart ansässig ist. Der Pharmakonzern Baxter, der im Süden Belgiens 2.000 Mitarbeiter beschäftigt, lobt als Standortvorteil die gut ausgebildeten belgischen Mitarbeiter.

Europäische Konzerne

In der belgischen – und zugleich flämischen – Hauptstadt Brüssel hat auch das Getränkeimperium AB-InBev seinen juristischen Firmensitz (die Brauereien befinden sich in Löwen, Jupille, Hoegaarden und Sint-Pieters-Leeuw). Und wenn Bier sicherlich eines der bekannteren Exportgüter Belgiens ist, geht es hier doch nicht nur um belgisches Bier, sondern um Marken wie Beck´s, Hasseröder, Franziskaner, Spaten oder Diebels – sie alle gehören zu dem belgisch-brasilianischen Konzern, der, gemessen am Absatzvolumen, die größte Brauereigruppe der Welt ist. Das Unternehmen beschäftigt 155.000 Mitarbeiter und ist mit über 200 Marken in 140 Ländern vertreten.

Europa en Miniature

Belgien ist zudem ein guter Testmarkt für neue Produkte, denn auf kleinem Raum steht hier ein Querschnitt durch die europäische Bevölkerung zur Verfügung. Der Coca-Cola-Konzern baute in der Hauptstadt Brüssel das größte Entwicklungszentrum außerhalb seines Konzernsitzes in Atlanta. Das Konzept von Fanta World, die Limonade mit verschiedenen Geschmacksrichtungen aus aller Welt anzubieten, kommt passenderweise aus Brüssel. Denn auch hier herrscht große Vielfalt auf kleinem Raum.

Zusammenfassend: Belgien wird daher geschätzt als ausgesprochen attraktiver Unternehmensstandort im Herzen Europas, der über eine diversifizierte und dynamische Wirtschaft verfügt und spielt weltweit in der Spitzenklasse.

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Autorin: Dr. Ute Schürings

Promovierte Niederlandistin & Romanistin; Interkulturelle Trainerin Benelux u.a.

Fernab der Klischees

Belgien ist eine der wichtigsten europäischen Drehscheiben – und ein hochinnovatives Industrieland der ersten Stunde. Wie lebt es sich mit einem sprichwörtlichen “Backstein im Magen”, wie lebt es sich in einem Staat mit gleichzeitig starker sozialistischer und katholischer Tradition?

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