In Belgien trennt – natürlich – die Sprache. Zu diesem trennenden Aspekt kommt hinzu, dass man sich auch medial in unterschiedlichen Öffentlichkeiten bewegt. Es gibt tagesaktuelle Nachrichten für Flandern, für die Wallonie und sogar für das Deutschsprachige Belgien. Ein gemeinsamer Kanal fehlt. Dazu kommt, dass auch der potentiell verbindende Schmelztiegel Brüssel für die meisten Belgier mental weit weg ist – und zwar für Wallonen und Flamen gleichermaßen. Mehr zur Medienlandschaft in Belgien auf unser Seite zu mehrsprachigen Medien in der Euregio.
Obwohl Brüssel auch die Hauptstadt Flanderns ist und im Grunde auf flämischem Gebiet liegt (es ist quasi eine Insel in Flandern, siehe Link), wird sie von den Flamen eher gemieden: Die Stadt mit einer Million Einwohner wird als groß und fremd empfunden, und viele Flamen gehen davon aus, dass hier in den Geschäften eh niemand Niederländisch spricht. Dabei ist gerade hier eine Änderung zu beobachten, und man wird in kleinen Läden und Kiosken öfter mal gefragt, welche Sprache man spricht.
Flandern & Brüssel
Noch vor 10-15 Jahren haben sich die auswärtigen Flamen über die Dominanz des Französischen in Brüssel geärgert, denn immerhin ist Brüssel ja die Hauptstadt Flanderns. Inzwischen herrscht jedoch eher Gleichgültigkeit: Brüssel ist weit weg, da fährt man nur selten hin – es sei denn, zum Konzert einer Band, die nur dort auftritt. Aber ein Mittelklasse-Bürger aus Gent oder Brügge würde nicht so schnell auf die Idee kommen, nach Brüssel zu fahren, um dort ins Theater zu gehen.
Es sind zwar nur 30 Minuten Fahrt, etwa von Gent nach Brüssel, aber dazwischen liegen Welten. Viele Flamen pendeln zum Arbeiten nach Brüssel, 250.000 sind es jeden Tag: Man wohnt in Gent, Antwerpen oder Brügge – und fährt abends wieder nach Hause.
Es gibt allerdings zunehmend mehr Flamen, die in der Stadt wohnen und die Brüssel gerade wegen seiner Diversität, seiner Internationalität und wegen des großen kulturellen Angebotes schätzen. Sie verstehen sich selbst allerdings oft eher als Brüsseler denn als Flamen.
Auch beim Kapitel Flandern & Brüssel kommt man um ein Grundverständnis von Belgiens doppeltem Föderalismus nicht umhin.
Wallonie & Brüssel
Ähnlich wie die Flamen sehen auch die Wallonen sehen Brüssel ganz überwiegend nicht als „ihre Stadt“ an – nur weil hier vielleicht ein paar Landsleute wohnen, die Französisch sprechen. Nein, man betrachtet Brüssel aus wallonischer Sicht zumeist als fremdes Terrain, auf dem Brüsseler, Ausländer und vielleicht ein paar Flamen wohnen. Denn die französischsprachigen Brüsseler sind eben keine Wallonen, sondern schlicht Brüsseler. 100.000 Wallonen fahren täglich morgens in die Stadt hinein, und abends wieder nach Hause.
Aber die Differenzierung in Belgien gilt auch die anderen Regionen:: Selbst innerhalb Flanderns und der Wallonie fühlen sich die Menschen meist sehr stark mit ihrer Heimatstadt verbunden, weniger mit dem jeweiligen Landesteil. Die regionale oder sogar örtliche Identität wird sehr stark wahrgenommen und kultiviert.
Man pflegt mit Vergnügen die gegenseitigen Vorurteile, und es gibt verschiedene Youtube-Clips oder Sendungen im flämischen Fernsehen, in denen Westflamen, Antwerpener und Limburger einander in breitester Mundart durch den Kakao ziehen.
Auch in der Wallonie gibt es ein starkes Herkunftsbewusstsein und regionale Mentalitätsunterschiede. Hier sind die Lütticher die Selbstbewussten, stolz auf ihre Geschichte als freies, einflussreiches Fürstbistum im Mittelalter und reiches Industriegebiet im 19. Jahrhundert. Es gibt eine alte Rivalität mit dem westlich gelegenen Charleroi, das früher ebenfalls ein Zentrum der Kohle- und Stahlindustrie war.
Zum Weiterlesen: Flandern, die Wallonie und Brüssel kennen viele gemeinsame Traditionen und Feierlichkeiten. Ähnlich sind daher auch die Feiertage, Unterschiede gibt es trotzdem, wie das Belgiennet mit einer Infographik beleuchtet.
Deutschsprachiges Ostbelgien
Diese starke Orientierung an der unmittelbaren Heimatregion relativiert daher die Vorstellung einer strikten Zweiteilung zwischen Flamen und Wallonen. Außerdem gibt es im Osten des Landes noch die kleine Deutschsprachige Gemeinschaft (DG). Diese rund 77.000 Einwohner zählende Gruppe ist ein ganz eigenes Phänomen. Nach dem Ersten Weltkrieg von Deutschland abgetrennt, zählt das Gebiet im Südwesten von Aachen seit 1919 offiziell zu Belgien. Die Einwohner haben ihre Muttersprache beibehalten und sprechen zu Hause, bei der Arbeit und in der Schule Deutsch – fühlen sich aber eindeutig als Belgier!
Die DG gilt im flämisch-wallonischen Streit oft als der lachende Dritte. Sie gehört zwar zur wallonischen Region, ist aber eine eigenständige Sprachgemeinschaft, mit den gleichen Rechten wie die großen Gemeinschaften der Flamen und Französischsprachigen. Sie kann daher selbst über ihre Schulen und Bildungseinrichtungen bestimmen, und hat von der wallonischen Region noch einige zusätzliche Kompetenzen erhalten, etwa im Bereich Arbeitsmarkt oder Bauwesen.
Viele der Deutschbelgier sprechen fließend alle drei Landessprachen und behaupten daher manchmal scherzhaft, sie seien die einzigen wahren Belgier. Sie können manchmal innerbelgisch ausgleichen, etwa wenn eine Regierungsbildung problematisch ist und es Vermittler:innen braucht. Überdies fungieren sie als Bindeglied zwischen Belgien und Deutschland.
Informationen für Neuzugezogene rund um Eupen und potentielle Grenzgänger:innen in Ostbelgien haben wir gesondert zusammengestellt.
Brüssel: Eine Stadt, viele Lebenswelten
Brüssel ist nicht nur Wohnort für Niederländisch- und Französischsprachige, die Stadt beherbergt überdies ein Heer von EU-Beamten aus allen Mitgliedsstaaten und eine Reihe anderer Expats und deren Familien. Zudem leben hier zahlreiche Migranten, überwiegend aus Marokko und der Türkei. Es handelt sich allerdings eher um ein Nebeneinander als um ein Miteinander, denn es gibt in Brüssel mindestens drei völlig getrennte Lebenswelten: Die belgischen Brüsseler, die EU-Ausländer plus Umfeld und die nicht westlichen Migranten. Brüssel hat mittlerweile einen Migrantenanteil von knapp 50 Prozent. Damit stellen selbst die belgischen Französischsprachigen nicht länger die Mehrheit, sondern nur noch die größte Einzelgruppe.
Die EU-Ausländer bleiben meist unter sich, viele ziehen nach ein paar Jahren wieder weg. Sie sprechen in der Regel kein Niederländisch und oft auch nur wenig Französisch. Am Arbeitsplatz und bei privaten Treffen wird Englisch gesprochen, es gibt wenig Berührungspunkte mit den übrigen Einwohnern der Stadt. Diese sehen die EU mit ihren futuristisch anmutenden Gebäuden oft wie eine Art Raumschiff, das irgendwie in ihrer Stadt gelandet ist.
Die Migranten, die nicht aus der EU stammen, leben meist eng beieinander und sind stark mit ihrem jeweiligen Heimatland verbunden. Es gibt Viertel mit einem sehr hohen Anteil an Menschen mit marokkanischen und türkischen Wurzeln, wie das inzwischen so bekannte Molenbeek, aber auch St. Gilles/Sint Gillis – das inzwischen auch einige sehr schicke Ecken hat, wo dann wiederum in erster Linie die finanziell besser gestellten Belgier oder EU-Angehörigen wohnen.
Molenbeek übrigens grenzt direkt an die Brüsseler Innenstadt und ist keineswegs ein no-go-area. Es gibt hier zum Beispiel eine freie Schule, die auch für Schüler aus anderen Stadtvierteln attraktiv ist – jeden Morgen bringen daher einige gut situierte Eltern ihre Kinder nach Molenbeek zur Schule. Auch kulturell wird in diesem Stadtteil einiges geboten, im April 2016 etwa hat ein neues Museum für moderne Kunst eröffnet. Mit seinen dreistöckigen Häusern, Cafés und Läden ist Molenbeek ein quirliges Viertel – und nicht vergleichbar etwa mit den gesichtslosen Pariser Vorstädten und ihrer Hochhaustristesse.
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Zum besseren Eindruck in verschiedene Öffentlichkeiten eignet sich der Schmelztiegel Brüssel: Ein touristischer Blick auf Brussel, aus flämischer Perspektive und von visit.brussels. Unterschieden muss übrigens zwischen der relativ kleinen offiziellen Stadt Brüssel und den zahlreichen Stadtvierteln, die komplett mit Brüssel verwachsen sind und zum Teil dessen spannenste Orte beherbergen.