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Lebensgefühl, Familie, Kirche und Staat, Essen

Die Überschrift nennt wichtige “Institutionen” des belgischen Alltags, die eine ganz eigene Mischung ergeben. Bei aller Ähnlichkeit entsteht für Deutsche und Niederländer eine Mischung, die in manchem “südländisch” anmuten mag.  Dabei ist Belgien nicht unbedingt konservativer als Deutschland oder die Niederlande und in mancherlei Hinsicht eindeutig progressiver.

Hinweis: Die folgenden Texte sind Teil von “Belgien: Arbeitsplatz, Alltag & Lebensgefühl” und am besten in diesem Kontext verständlich.

"Romanische Mentalität"

Belgien wird oft als romanische Kultur bezeichnet. Genuss ist Teil des Lebens, gern gibt man Geld aus für einen Restaurantbesuch oder ein gutes Essen. So lässt sich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, etwa wenn man einen Geschäftskontakt zum Essen ausführt.

Und wie wohnt man in Belgien? Viele Einwohner bleiben ihr Leben lang in der gleichen Region, und es ist absolut üblich, ein eigenes Haus zu besitzen. Man lebt oft nicht weit entfernt von der Familie, trifft ein Leben lang die alten Schulfreunde und pflegt den Kontakt.

Familie

Für viele Belgier spielt die Familie eine sehr große Rolle – dies gilt für Flamen ebenso wie für Wallonen, Brüsseler und Ostbelgier:innen. Junge Eltern besuchen am Wochenende oft die Großeltern, Cousins und Cousinen wachsen manchmal wie Geschwister auf. Die Abstände zwischen den Wohnorten sind meist nur gering, denn es ist eher unüblich, in mehr als 50 km entfernte Städte umzuziehen. Und wenn es etwas zu feiern gibt, trifft sich gleich der ganze Clan. Hochzeit, Taufe, Erstkommunion, Firmung – es gibt regelmäßig Gelegenheiten, zu denen im katholisch geprägten Belgien die ganze Familie eingeladen wird.

Aber man feiert nicht nur miteinander – auch im Alltag ist der Kontakt innerhalb der Verwandtschaft oft sehr eng, vor allem in ländlich geprägten Gegenden: Man hilft einander, kauft in den Geschäften der anderen ein, fährt zusammen in Urlaub, und die Großeltern helfen im Haushalt der jungen Familien. Die Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz fördern diese Ortverbundenheit oder gehen zumindest darauf ein – ein Dienstwagen ist in Belgien absolut üblich.

Backstein im Magen?

Belgier in Nord und Süd legen zudem großen Wert auf Wohneigentum. Erst wenn man in den „eigenen vier Wänden“ lebt, fühlt man sich richtig wohl. Die Zahlen sprechen für sich: 72 Prozent aller Belgier leben im eigenen Einfamilienhaus, 80 Prozent in Flandern, 82 Prozent in der Wallonie – nur die Brüsseler in ihren Wohnungen senken den Schnitt. „Jeder Belgier wird mit einem Backstein im Bauch geboren“, heißt es daher oft.

Und wenn das Haus dann gekauft ist, wird mit großem Engagement umgebaut. Bauen, basteln und renovieren sind beliebte Freizeitaktivitäten, davon zeugen auch die vielen Bau- und Heimwerkermärkte. Beim Hausbau oder Umbau hilft oft die ganze Familie. Jeder kann etwas Bestimmtes, wie Fliesen legen, malern oder Wasserhähne anschließen, auch handwerklich begabte Kollegen und Nachbarn sind willkommen.

Und das Haus wächst mit seinen Bewohnern. Viele Grundstücke sind schmal und lang, mit Fassaden an der Straßenseite, die aneinander anschließen, und viel Platz auf der Rückseite – so dass man eine Terrasse anbauen kann, eine kleine Werkstatt oder einen Schuppen. So ein Anbau wird Kott (kot) genannt, das Wort ist in allen Landessprachen gleich und heißt so viel wie Schuppen. Fährt man mit dem Zug durch Belgien, sieht oft man die Rückseiten der Häuser, an die zahlreiche dieser verschachtelten Schuppen angebaut wurden – in den allermeisten Fällen an der Bauaufsicht vorbei.

Hier beim Hausbau oder -umbau kann jeder seine Vorstellungen verwirklichen, vor allem die zahlreichen nicht genehmigten Anbauten werden gern als Symbol für einen als typisch belgischen Non-Konformismus bezeichnet. Man lasse sich eben nicht gern etwas vorschreiben. Und bis 1995 gab es tatsächlich keine verbindlichen Bebauungspläne in Belgien – was man dem Land heute deutlich ansieht.

Darüber machen die Belgier auch selbst oft Witze – es gibt facebook-Seiten wie ugly belgian houses, die ein paar Höhepunkte schlechten Geschmacks zeigen. Es gibt allerdings auch sehr viele andere Beispiele, gelungene Kombinationen von traditionellem und modernem Stil, pfiffige Ideen und äußerst stilvolle Anwesen.

 

Distanziertes Verhältnis zum Staat

Mit fehlenden Genehmigungen hat in der Regel niemand ein Problem, nicht nur beim Hausbau. Ganz im Gegenteil. Es gibt eine weit verbreitete Grundhaltung, mit Regeln flexibel umzugehen. Der Staat ist weit weg und wird oft auch nicht sonderlich geschätzt. „Denen da oben“ trauen viele Belgier nicht wirklich über den Weg, Schlagzeilen über Korruption in Politik und Verwaltung verwundern wenig. Daraus leiten viele Bürger:innen offenbar eine gewisse persönliche Freiheit ab, nach dem Motto: „Wenn der Staat macht, was er will, dann tue ich es auch.“ Das heißt konkret: Es ist nicht unüblich, Gesetze auch einmal zu umgehen und Genehmigungen nicht einzuholen.

Diese Haltung wird oft als das Ergebnis der über Jahrhunderte andauernden Fremdherrschaft (siehe Abschnitt Geschichte) gesehen. Es habe sich eine Art innere Opposition und damit der Reflex entwickelt, Regeln und Vorgaben zu umgehen, so der belgische Autor Geert Van Istendael, der zahlreiche Texte über die belgische Mentalität publizierte. Belgier bezeichnen ihre Mentalität oft als ein wenig romanisch bzw. südländisch: Wichtig sind Familie und Grundbesitz, dem Staat misstraut man eher, und die katholische Kirche spielt eine nicht unwichtige Rolle. Auch wenn der belgische Staat nunmehr seit fast 200 Jahren besteht – zuvor dominierten eher selbstbewusste Städte und Herzogtümer den Alltag und haben bis heute prägende Spuren hinterlassen (siehe Bild unten).

Wie dieser Staat aufgebaut ist erklärt das Modul zu “Belgiens doppeltem Föderalismus“.

Kirche

Beim Gebäude oben handelt es sich keineswegs um eine Kirche – sondern um einen Belfried (in dem Fall in Brügge). Dieser Ausdruck der selbstbewussten Bürgerschaft in flämischen und auch wallonischen Städten stellte schon im Mittelalter manche Kirche in den buchstäblichen Schatten.

Dennoch: Der Bezug zur katholischen Kirche ist in Belgien bis heute bemerkenswert. Immer noch gehören 76 Prozent der belgischen Gesamtbevölkerung der römisch-katholischen Glaubensgemeinschaft an, traditionell ist das Land katholisch geprägt. Belgien hat jedoch trotzdem eine sehr fortschrittliche Gesetzgebung in Sachen Sterbehilfe und Homoehe, die gesellschaftlich weitgehend akzeptiert ist.

Die Haltung der Kirche gegenüber ist ambivalent, und interessanterweise ist auch die Kirche selbst in Belgien ausgesprochen ambivalent – etwa was die erwähnten Themen Homoehe und Sterbehilfe angeht, aber auch in Bezug auf  Schwangerschaftsabbruch oder die Funktion von Frauen in der Gemeinde.

Der ehemalige Erzbischof von Mechelen-Brüssel und spätere Kardinal Godfried Daneels etwa vertrat bereits in den 1908er und 1990er Jahren sehr progressive Ansichten zu diesen Themen. Katholisch ist in Belgien also nicht zwangsläufig gleichzusetzen mit konservativ. Sein 2010 ernannter Nachfolger André Léonard allerdings tendierte genau die entgegengesetzte Richtung und brachte damit viele Belgier gegen sich auf.

Eine automatisch vom Gehalt abgezogene Kirchensteuer wie in Deutschland gibt es übrigens nicht, was ein Grund dafür sein mag, dass nur wenige Belgier aus der Kirche austreten, selbst wenn sie sich mental weit vom katholischen Glauben entfernt haben.

Essen gehen: Gut soll es sein, und genug soll es sein​

Die meisten Belgier, und dies gilt für alle Landesteile, gehen gerne aus. Man verabredet sich im Café oder geht zusammen essen. Auf Essen wird generell großer Wert gelegt: Es soll gut sein, es soll genug sein, und es darf auch etwas kosten.

Mit einer belgischen Familie essen zu gehen, etwa am Samstagabend, wenn alle Zeit haben, ist ein großes Vergnügen. Erwachsene und Kinder bestellen nach Herzenslust, da ist man in der Regel nicht kleinlich – und man lässt es sich gemeinsam schmecken.

Restaurants sind auch unter der Woche eine Oase im täglichen Stress. Vor allem in den Städten geht man mittags essen, oft gibt es ein dreigängiges Menü, und nicht selten ein Glas Wein dazu. Viele Niederländer berichten, das sei ein völlig anderes Lebensgefühl als bei ihnen zu Hause.

Oft ist in diesem Zusammenhang die Rede von einem romanischen oder mediterranen Lebensgefühl, das man in Belgien antreffe – die Belgier selbst verwenden dafür auch oft den Begriff burgundisch. Burgundisch ist positiv konnotiert und meint alles, was mit Genuss zu tun hat: ein burgundischer Mensch ist jemand, der das Leben genießt und gerne gut isst.

Essen ist in Belgien Teil der Kultur, auch der Geschäftskultur – wichtige Entscheidungen werden in Belgien regelmäßig beim Essen getroffen, oder zumindest in einem Restaurant, und die Qualität ist wichtig. Gemessen an seiner Einwohnerzahl hat Belgien ebenso viele Michelin-Sterne wie Frankreich. Und es sind beileibe nicht nur Brüsseler Spesenritter, die diese Lokale frequentieren. Man könnte zusammenfassen: „Genuss gehört zum täglichen Leben in Belgien. Komme was wolle, wir lassen uns das Leben nicht vermiesen!“

Mehr zu diesem Thema in unserem Modul zur belgischen Arbeits- und Geschäftskultur.

Leben wie Gott in Belgien

Einige Dimensionen des Lebens in Belgien sind nun Klarer – auch zum Lebensstil in Deutschland und den Niederlanden gibt es ausführliche Informationen in unserem entsprechenden Audiomodul.

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Dr. Ute Schürings

Promovierte Niederlandistin & Romanistin, Interkulturelle Trainerin mit Schwerpunkt auf Belgien, Niederlande, Deutschland und Benelux

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