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Doppelter Föderalismus, Zuständigkeiten & Kompetenzen

Die folgenden Texte sind Teil der Gesamtbetrachtung zu “Belgiens Sprachen, Staatsstruktur und öffentliches Leben”, das auch zum Download bereit steht.

Belgien - viele Fragezeichen?

Belgien ist ein kompliziertes Land – diese Einschätzung ist immer wieder zu hören, oft in einem abwertenden Ton. Wenn von der Unübersichtlichkeit der belgischen Politik die Rede ist, wird allerdings oft der schwierige historische und soziale Hintergrund übersehen, der zu der gegenwärtigen Situation führte. Außenstehende beurteilen die politischen Strukturen als unnötig kompliziert oder teuer – und verkennen dabei, dass es um den Versuch einer pragmatischen Lösung für tiefgreifende Interessensgegensätze handelt.

Wir werfen im Folgenden einen Blick hinter die Kulissen und schauen dabei, warum sich die verschiedenen Landesteile immer weiter voneinander entfernt haben, und welche Lösungen die Politik für die verschiedenen Interessen finden konnte. Ein solches Wissen ist der Schlüssel zu einem tiefergehenden Verständnis Belgiens. Und man wird sehen: Es gibt eine Reihe von Staaten, die für weniger in einen Bürgerkrieg gerieten oder auseinanderbrachen!

Wichtig ist dabei, zwischen administrativen Strukturen und kultureller Identität  zu trennen. Was ihre Werte und ihre Mentalität betrifft, sind sich Flamen und Wallonen gar nicht so unähnlich – aber die Strukturen führten zu einem zunehmenden Auseinanderdriften. Der Föderalismus mit seiner Entflechtung wirkt in einer Weise trennend, die dem Gefühl der Zugehörigkeit und der Identität oft gar nicht entspricht.

Gemeinsam ist übrigens auch eben dieser Föderalismus – und die jahrzehntelange, friedliche Suche nach effektiven Kompromissen, die wir in unserem zusätzlichen Modul zum Sprachenstreit beleuchten. Die Belgier eint sicherlich, dass wahrscheinlich nur sie die Hintergründe und Problematiken wirklich verstehen.

Der doppelte Föderalismus – Zuständigkeiten und Kompetenzen

Der doppelte Föderalismus ist das Resultat einer äußerst schwierigen Ausgangslage: Ein Staat mit unterschiedlichen Volksgruppen und Sprachen; die eine Gruppe dominiert sprachlich, sozial, politisch und wirtschaftlich; die andere wird über 100 Jahre lang benachteiligt; ein fremder Staat gießt Öl ins Feuer und hetzt die bis dato unterlegene Gruppe auf.

Kleine Geschichte getrennter Kompetenzen

War die Befreiung von fremden Mächten zu Beginn Grundlage eines gemeinsamen Kampfes, so sorgten die Besatzungen im ersten und zweiten Weltkrieg, vorgeworfenen und tatsächlichen Kollaborationen im zweiten Weltkrieg für Spannungen. Hinzu kam die kulturelle und wirtschaftliche Emanzipation der flämischen Landesteile.

Was also haben die Belgier mit den aufkommenden Spannungen gemacht? Zunächst einmal entschied man sich für einen größeren Abstand zueinander und die Aufteilung von politischen Zuständigkeiten. Der Gedanke dahinter war: Wenn jeder seine Sachen selbst regelt, gibt es weniger Ärger.

Um mehr Klarheit in der territorialen Zuordnung zu gewinnen, legte man 1962 eine offizielle Sprachgrenze fest. Das heißt, jeder Ort wurde einer der großen Sprachen zugeordnet, Brüssel war zweisprachig, im Siedlungsgebiet der deutschsprachigen Belgier war die Sprache Deutsch. Obwohl, grob gesagt, in den nördlichen Provinzen Niederländisch und in den südlichen Französisch gesprochen wurde, war die Zuordnung teilweise schwierig. Denn es gab Gemeinden in der Nähe der Sprachgrenze, die zweisprachig waren, oder kleine Sprachinseln jenseits der Trennungslinie.

Zunehmend forderten insbesondere die Flamen eine größere Eigenständigkeit, vor allem auch, um eine eigene Wirtschaftspolitik verfolgen zu können. Und dazu hatten sie allen Grund, denn in den 1950er und 1960er Jahren ging es mit der flämischen Wirtschaft steil bergauf. Kleine und mittelständische Unternehmen florierten, der Hafen Antwerpen wurde ausgebaut. 1966 erreichte Flandern das BIP der Wallonie, und die Wirtschaftsleistung wuchs weiter, während sie in der Wallonie stagnierte und schließlich abnahm.

Die wirtschaftspolitische Ausrichtung beider Landesteile passte schlecht zusammen: Flandern mit seinen kleinen und mittleren Unternehmen wollte weniger Handelsbeschränkungen, die Wallonie mit ihren großen Industriebetrieben eher staatliche Protektion und finanzielle Hilfe für den nötigen Strukturwandel. Der flämisch-wallonische Konflikt, der zunächst in erster Linie sprachlich-institutioneller Natur gewesen war, erhielt durch diesen Interessengegensatz noch eine wirtschaftspolitische Komponente. Mehr zu Belgiens Wirtschaftskraft im entsprechenden Modul.

Damit unterschiedliche Interessen verfolgt werden konnten, wurde der belgische Staat in den folgenden Jahrzehnten von Grund auf umstrukturiert. Zwischen 1970 und 2011 einigte man sich auf nicht weniger als sechs Staatsreformen, und Belgien wurde zum Föderalstaat. Da aber Brüssel zweisprachig war, konnte man das Land nicht einfach in Bundesländer aufteilen. So entwickelte sich das Modell eines doppelten Föderalismus, bestehend aus drei Sprachgemeinschaften und drei Regionen. Dazu als Dach die übergeordnete föderale Regierung.

Wie sich die Situation heute im Detail darstellt, ist in untenstehendem Video zu sehen. Mehr Informationen finden sich auch in den Ausführungen zum derzeitigen Staatsaufbau im Belgiennet der Universität Paderborn zu entnehmen.

Video zu politischer Geschichte und Gegenwart

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Gemeinsame Gegenwart

Es gibt territorial definierte Regionen, sprachliche Gemeinschaften und die Föderalregierung. Kompliziert wird die Sache dadurch, dass die eine Ebene der anderen nicht unbedingt untergeordnet sein muss – Bei manchen Entscheidungen braucht es gleich sieben Minister:innen zur Weiterentwicklung eines Dossiers.

Die territorial definierten Regionen (Flandern, Wallonie, Brüssel-Hauptstadt) sind zuständig für die gebietsbezogenen Materien wie Wirtschaft, Außenhandel, Verkehr, Bodennutzung, Städte- und Straßenbau. So kann jede Region etwa die für sie passende Wirtschaftspolitik festlegen, ohne dass es Konflikte gibt.

Die Gemeinschaften (flämische, französischsprachige und deutschsprachige) sind dagegen für personenbezogene Angelegenheiten zuständig, das heißt konkret für Gesundheit, Kultur, Schul- und Hochschulwesen. Da Brüssel zweisprachig ist, wird das Territorium Brüssel von der Region Brüssel-Hauptstadt verwaltet, die dort lebenden Einwohner können jedoch je nach sprachlicher Zugehörigkeit ihre Schule oder ihr Krankenhaus wählen, denn hierfür sind die Gemeinschaften zuständig.

Kurz gesagt: die Regionen sind für bodenbezogene Themen (wie etwa Wirtschaft) zuständig, die Gemeinschaften hingegen für personenbezogene (wie etwa Schule).

Der übergeordnete Föderalregierung mit Sitz in Brüssel obliegen die nationalen Angelegenheiten, also Außenpolitik, Verteidigung, Justiz, Finanzen, Sozialsysteme und innere Sicherheit. Sowohl Regionen als auch Gemeinschaften verfügen über eigene Parlamente bzw. Räte und verwalten sich weitgehend selbständig. Zusammen mit jeweils eigenen Medien der Gemeinschaften ergeben sich verschiedene Öffentlichkeiten, die eben nur bei recht wenigen föderalen Themen Schnittpunkte haben.

Die flämische Gemeinschaft und Region sind zusammengefasst, Sitz ihrer Regierung ist in Brüssel. Die wallonische Region hat ihren Sitz in Namur, die Region Brüssel-Hauptstadt in Brüssel. Die französische Gemeinschaft, zu der auch die französischsprachigen Brüsseler gehören, hat ihren Sitz ebenfalls in Brüssel. Sitz von Regierung und Parlament der deutschsprachigen Gemeinschaft ist Eupen. Das ergibt eine recht große Zahl an Regierungen und wichtigen Posten. Die Infographik des Belgiennet bietet eine stets aktualisierte Übersicht.

Um es etwas zu vereinfachen: In Flandern sind Region und Gemeinschaft somit fast deckungsgleich, die Region Wallonie umfasst das Gebiet der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG), aber nicht das regional eigenständige Brüssel. Bei der französischsprachigen Gemeinschaft ist Brüssel größtenteils dabei, aber die deutschsprachige Gemeinschaft nicht.

Stets geht es um einen Ausgleich von Interessen und Gleichberechtigung, auch in der föderalen Regierung: Obwohl die Flamen 60 Prozent der Einwohner Belgiens ausmachen, erhalten sie in der föderalen Regierung nicht mehr Ministerposten als die Französischsprachigen. Andererseits ist garantiert, dass Brüssel eine zweisprachige Stadt bleibt, obwohl dort überwiegend Französisch gesprochen wird. Daher gibt es in Brüssel zwei Amtssprachen, das heißt, alle Straßenschilder sind zweisprachig, genau wie die U-Bahn-Stationen und alle öffentlichen Bekanntmachungen. Und wer dort im öffentlichen Dienst arbeiten will, muss Sprachkenntnisse in beiden Landessprachen nachweisen.

 

Ein Blick in die Zukunft

Oft wird gefragt, ob das Land denn nun immer weiter auseinanderdrifte und es womöglich irgendwann zu einer Trennung komme. Gerade seitens der Flamen wird zwar eine weitere Dezentralisierung diskutiert, es gibt allerdings Gegenstimmen.

Flämische Politiker auch der konservativen Parteien sprechen sich explizit gegen die Schaffung eines Feindbildes und eines einseitigen Wir-und-Die-Diskurses aus. Und in der Wallonie ist schon seit längerer Zeit ein Bedauern über die flämischen Trennungswünsche zu vernehmen.

Schon seit einigen Jahren wird in den Medien ab und zu der Wunsch nach einer Stärkung Belgiens laut, oder zumindest eine gewisse Nostalgie in Bezug auf die die alten Zeiten, als beide Landesteile noch nicht so stark auseinanderdividiert waren. Viele befürchten, dass Belgien zu einer Art Briefkastenstaat wird, der gar keine übergeordneten Kompetenzen mehr hat, weil sie alle entweder bei den Regionen oder auf der europäischen Ebene liegen.

Andererseits gibt es tatsächlich Konzepte für ein Belgien der vier Regionen, das wohl eine weitere Trennung mit sich brächte. Dieses Modell geht davon aus, dass Flandern sich langsam von Brüssel löst, das dann einen neutralen, unabhängigen Status erhielte. Die vier Regionen wären dann Flandern, die Wallonie, Brüssel und die Deutschsprachige Gemeinschaft.

 

Scheinbare Widersprüche und Erklärungen

Wie lassen sich diese Widersprüche zwischen Zusammengehörigkeit und Trennungswünschen erklären? Man muss hier zwischen administrativen Strukturen und kultureller Identität trennen. Flamen und Wallonen sind sich, was ihre Werte und ihre Mentalität betrifft, sehr ähnlich – aber die Strukturen führen zu einem zunehmenden Auseinanderdriften. Der Föderalismus mit seiner Entflechtung wirkt in einer Weise trennend, die dem Gefühl der Zugehörigkeit und der Identität gar nicht entspricht.

Die deutschbelgische Politologin Marieke Gillessen erklärt: „Der voranschreitende, zentrifugale Föderalismus basiert nicht auf existentiellen kulturellen Unterschieden zwischen Flamen und Wallonen, sondern vielmehr auf institutionalisierten binären Strukturen.“ Die fortdauernde Debatte darüber, wer wie viel kriegt und wer was entscheiden darf, führt zu Zwietracht und Konkurrenzdenken. So ist eine Eigendynamik entstanden, die das Trennende immer weiter verstärkt.

Trotz gemeinsamer Werte gibt es daher kein wirkliches Gemeinschaftsgefühl, und es sind mit der Zeit verschiedene kulturelle Netzwerke entstanden – die jedoch nicht auf unterschiedlichen kulturellen Annahmen basierten. Dies kann man auch im Alltag feststellen: Viele Flamen geben an, sie hätten eine ähnliche Mentalität wie die Wallonen, und umgekehrt.

Während der Hochwasserkatastrophe im Sommer 2021 waren viele Wallonen sehr positiv überrascht, wie selbstverständlich viele Flamen zum Aufräumen kamen – in Interviews hieß es dann oft, dass man doch ein Land sei, und dass es eher die Politiker sind, die spalten wollten.

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Ist das Glas halb voll oder halb leer? Einige Widersprüche über Belgiens komplexen Aufbau hat der Autor Geert van Istendael in seinem Gedicht “Ich liebe Belgien – ich hasse Belgien” zusammengefasst. Darin werden sowohl Nach- als auch Vorteile des gegenwärtigen Staatsaufbaus und seinen Konsequenzen im Alltag beleuchtet.

Wissenschaftlich beschäftigt sich u.a. das Belgiennet mit verschiedenen Betrachtungen zur gegenwärtigen Situation in Belgien.

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Autorin: Dr. Ute Schürings

Promovierte Niederlandistin & Romanistin; Interkulturelle Trainerin BeNeLux u.a.

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